Lotos Lab

Über Grenzen spielen

Was auf ursprünglichen Knochenflöten erklang, in welche Alltagspraktiken und Vorstellungswelten das, was wir heute so selbstverständlich »Musik« nennen, eingebettet war, weiß kein Mensch. Das Leben in der Altsteinzeit? Ein Dasein unter einem Übermaß an Grausamkeit. Ab und zu ein heller Ton. Ansonsten Hunger, Angst, Schmerz. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Eine der wenigen Möglichkeiten, vage Zugänge zu einer derart entrückten Epoche zu gewinnen, ist, auf ihren Instrumenten zu spielen. In Hofheim am Taunus kann man im September 2025 an einem archäomusikalischen Abenteuer zweier hochinteressanter Interpreten teilhaben.

„Ein wendiges, kluges, gewinnendes Knäblein.“ Ein Räuber, Führer im Traumland, nächtlicher Späher, Morgenkind – so umschreiben die Homerischen Hymnen, eine Sammlung antiker griechischer Gedichte, den Gott Hermes. Bereits kurz nach seiner Geburt verlässt dieser die Grotte im Kyllene-Gebirge, in der er als Sohn des Zeus und der Nymphe Maia zur Welt gekommen ist. Am Ausgang erblickt er eine Schildkröte, die ihm behäbig entgegenläuft. „Dies ist das nützlichste Treffen für mich, ich will es nicht schelten. Heil dir, lieblich Gewachsene! Hochwillkommen erscheinst du!“ Der junge Gott ist erfreut, preist seinen Glücksfund und trägt ihn nach Hause. Dort tötet er das Reptil, um aus ihm eine Leier zu fertigen – laut Mythos das erste Musikinstrument. Die Verse geben Auskunft auch über Bauweise und verwendetes Material: Hauptbestandteil ist der bunte Schildkrötenpanzer, zusammenmontiert mit hohlen Halmen, Rinderhaut und verschiedenen Holzelementen. Das Instrument wird mit sieben Saiten aus Schafdarm bespannt, die Hermes anschließend zusammenstimmt. Dann beginnt er, zu musizieren.

Anfänge der Musik liegen im Dunkeln
Die Datierung der Homerischen Hymnen ist nicht abschließend geklärt. Ihre Mehrzahl stammt vermutlich aus dem 7. bis 5. Jahrhundert v. Chr. Damit gehören sie zu den ältesten überlieferten Texten der griechischen Antike und enthalten zugleich eine der frühesten Geschichten zur Entstehung der Musik in der westlichen Welt. Weitere Herkunftserzählungen sind in den Sagenkreisen um die Musen, den Hirtengott Pan sowie um Athene und Apollo enthalten. Sie alle sind im Grunde Variationen desselben mythischen Narrativs: Musik und die Gegenstände ihrer Erzeugung sind göttlichen Ursprungs und damit Elemente einer einer höheren Leistungssphäre, an der Menschen allenfalls teilhaben können, die selbst hervorzubringen sie aber außerstande sind.

Originale Flöte aus Gänsegeierknochen mit einem Alter von rund 40.000 Jahren, gefunden 2008 in der Hohlefels-Höhle in Baden-Württemberg, Deutschland. Foto Claus Rudolph/Urgeschichtliches Museum Blaubeuren

In wissenschaftlicher Hinsicht ist über die Anfänge der Musik nahezu nichts bekannt. Sie liegen irgendwo in den schriftlosen Jahrtausenden der Altsteinzeit. Wann die ersten Klangerzeuger etwa in Form von Stöcken, Rasseln oder Trommeln tatsächlich entstanden, wird wohl unklar bleiben. Aus vergleichsweise instabilem Material wie Holz hergestellt, dürfte von diesen ältesten Objekten nichts erhalten sein. Mit einiger Sicherheit wird heute angenommen, dass es sich bei Flöten aus Vogelknochen und Mammutelfenbein mit einem Alter von rund 40.000 Jahren um die ältesten belegten Musikinstrumente der Welt handelt. Von diesen urtümlichen Aerophonen bis zu den ersten Schriftzeugnissen vergehen – nach allem, was heute bekannt ist – noch etwa 35.000 Jahre. Ein bemerkenswertes Zahlenverhältnis, das das enorme Gewicht musikalischer Praxis im Prozess der Anthropogenese deutlich macht.

Ob von Göttern oder Vögeln: Musik kam von oben. Stürzender Schwan in der Ausstellung »Klangräume« des Urgeschichtlichen Museums Blaubeuren. Besucher können dort verschiedene steinzeitliche Flöten im Original sowie deren Herstellungsprozess sehen.
Foto Urgeschichtliches Museum Blaubeuren

40.000 Jahre Musik
– so lautet der ambitionierte Titel des Eröffnungskonzerts beim 19. Interkeltischen Folkfestival, das vom 11. bis 14. September 2025 in Hofheim am Taunus stattfindet. Das Ensemble Lotos Lab, bestehend aus Stef Conner und Barnaby Brown, nimmt damit bewusst Bezug auf die ältesten bekannten Instrumentenfunde. In ihrer Performance geht es allerdings nicht um eine geraffte Musikgeschichte von der Akustik des Jungpaläolithikums bis zu KI-generierten Playlists, sondern vielmehr um den Versuch, älteste Funde und antike musikalische Überlieferungen greifbar zu machen. Das dafür aufgebotenen Instrumentarium umfasst eine bemerkenswerte Sammlung von Rekonstruktionen. So kommen beispielsweise neben Flöten aus Geierknochen auch der antike Aulos und mittelalterliche Triple pipes zum Einsatz. Wem der Name Barnaby Brown und dessen musikalisches Engagement geläufig sind, wird sich nicht wundern, dass diese Reihe noch um die schottische Great Highland Bagpipe ergänzt wird, die den aerophonen Bogen in die Neuzeit schlägt. Für die Saiteninstrumente – griechische Lyra und römische Kithara – sowie für den Gesang ist die Musikerin, Komponistin und Forscherin Stef Conner zuständig, die sich für ihre Kompositionen auf antike Quellen stützt.

Thomas Zöller, künstlerischer Leiter und Organisator der Veranstaltung, sieht in dem bevorstehenden Konzert die »nahezu perfekte Eröffnung«, da es in mehrfacher Hinsicht die Idee des Festivals berühre. »Beim Interkeltischen Folkfestival geht es vor allem darum, Zusammenkünfte zu ermöglichen und Verbindungen zu schaffen, und zwar durch authentische, handgemachte und unmittelbare Musik. Dieser Gedanke findet sich auch in der Performance von Stef und Barnaby. Außerdem passt der weite musikalische Bogen, den die beiden Künstler schlagen, sehr gut zu den musikalischen Traditionen, die das Festival hervorhebt«, so Zöller.

Stef Conner und Barnaby Brown bei einer Performance im British Museum im Mai 2019, Foto Lotos Lab

Ein Projekt für Verständigung
Das 2022 von Brown gegründete Projekt Lotos Lab umfasst neben der Durchführung von Konzerten auch eine Instrumentenwerkstatt. Darüber hinaus fungiert es als eine Art Forum zum Erwerb und Austausch von Wissen und Erfahrungen mit musikalischen Traditionen und altertümlichen Instrumenten. »Making. Learning. Performing. Together.«, wie es auf der Homepage von Lotos Lab prägnant heißt. Besondere Aufmerksamkeit verdient hier der vierte Punkt. Denn das ganze Vorhaben ist von einer Idee bestimmt, die letztlich auf Verbundenheit und Verständigung abzielt.
»Lotos Lab’s vision is of a world in which musical creativity helps us connect in inclusive and playful ways, inter-culturally and inter-generationally. Our mission is to provide global access to musical activities that build a sense of belonging across place and time.«, so die Website weiter.

Die Behauptung, dass Musik verbinden könne, wird nicht dadurch falsch, dass sie inzwischen etwas abgenutzt und phrasenhaft wirkt. Den Köpfen hinter Lotos Lab (und nicht nur diesen) ist jedenfalls zu wünschen, dass sie mit ihrem Vorhaben an möglichst vielen Stellen weiterhin erfolgreich sind.

Eröffnungskonzert: 40.000 Jahre Musik – Lotos Lab
Donnerstag, 11. September 2025, Beginn 20:00 Uhr
Pfarrkirche Peter und Paul
Hauptstraße 30
65719 Hofheim am Taunus

Barnaby Brown mit einem Aulos bei den Euterpe Music Awards 2024, Foto Lotos Lab

https://lotos-lab.com/
https://stefconner.com/
https://barnabybrown.info/
https://www.interkeltisches-folkfestival.de/

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